
(Archiv der Theo-Koch-Schule)
Martin Blumenthal wurde am 8. Mai 1915 in Londorf geboren.1 Seine Eltern waren der Viehhändler Joseph (Julius) Blumenthal, geboren am 2. März 1884 in Londorf, und Kathinka Kugelmann, geboren am 14. August 1892 in Wohra. Am 8. Oktober 1924, als Martin neun Jahre alt war, kam seine Schwester Berti zur Welt. Die Familie lebte in der früheren Allendorfer Straße 12 in Londorf (heute: Gießener Straße 80).2
An Ostern 1925 trat Martin Blumenthal in die Sexta (heute: 5. Klasse) der Oberrealschule Grünberg ein.3 Bereits sein Verwandter Moritz Blumenthal, der Cousin seines Vaters, hatte von 1911 bis 1913 diese Schule besucht. Seinen Schulweg legte Martin mit der Lumdatalbahn zurück, die in Londorf und Kesselbach hielt.4 Es gab zwar in anderen Jahrgangsstufen der Oberrealschule noch weitere jüdische Kinder; aber in Martins Klasse waren außer ihm und seinem jüdischen Mitschüler Hermann Roth aus Nieder-Ohmen alle Kinder evangelisch.5
Höhere Bildung war damals teuer. Ende der 1920er Jahre betrug das monatliche Schulgeld für die Oberrealschule 31 RM6 – eine nicht geringe Summe für Martins Eltern, deren Viehhandel vor 1933 nach einer Schätzung im Entschädigungsverfahren durchschnittlich 3000 RM netto im Jahr einbrachte.7 Waren die 31 Reichsmark alle Monate des Jahres, also auch in der Ferienzeit fällig (was nicht sicher ist), so machte das Schulgeld immerhin 12,4 Prozent des Nettoeinkommens der vierköpfigen Familie aus.
Seit 1926 konnte man an der Grünberger Oberrealschule das Abitur machen. Das war auch Martins Ziel. Er sei, so gibt er im Entschädigungsverfahren zu Protokoll, an die Oberrealschule Grünberg gegangen, „um zu studieren.“8 Sein jüdischer Mitschüler Hermann Roth aus Nieder-Ohmen sollte dieses Ziel an Ostern 1934 erreichen.9
Im August 1927 – Martin war inzwischen im dritten Schulbesuchsjahr, also in der Quarta (heute: 7. Klasse) – zog die Familie Blumenthal mit den Großeltern väterlicherseits von Londorf nach Kesselbach. Ihr Haus in Londorf hatten sie an den Kirchendiener Heinrich Hillgärtner verkauft.10 In Kesselbach wohnten sie in der früheren Appenborner Straße 11 (heute: Alsfelder Straße).
An Ostern 1929 verließ Martin Blumenthal die Oberrealschule Grünberg aus der Untertertia (heute: 8. Klasse). Wahrscheinlich wurde er nicht in Obertertia versetzt.11 Da die Abgangszeugnisse erst ab Juni 1929 im Schularchiv erhalten sind, kann diese Annahme allerdings nicht belegt werden.
In einer eidesstattlichen Versicherung vom 27. Oktober 1959 schilderte Martin Blumenthal rückblickend seinen weiteren Ausbildungsweg: „Ich kam dann in die Vogtsche Handelsschule in Gießen12 und trat daran anschliessend13 als Lehrling bei der Firma Leiser in Bad Wildungen ein.14 […] Während meiner Tätigkeit in Bad Wildungen erkrankte ich. Nach meiner Wiederherstellung nahm mich mein Vater in sein gut gehendes Unternehmen auf.“15
Der Viehhandel seines Vaters sei jedoch bald, so Martin Blumenthal im Rückblick, „wie üblich von den Nazis lahmgelegt“ worden.16 Die Recherchen der Entschädigungsbehörde bestätigen diese Darstellung: „Nach der Machtübernahme ging das Geschäft zurück u. musste schließlich 1936 geschlossen werden.“17
Ein zentraler Umschlagplatz für das Vieh der Blumenthals muss die Stadt Grünberg gewesen sein. Zwischen April und November wurden dort jährlich acht bis neun Viehmärkte abgehalten. Der wichtigste davon, der traditionsreiche Gallusmarkt, fand immer im Oktober an einem Mittwoch oder Donnerstag statt. Bereits für den 1933er Gallusmarkt wurde jedoch von der Stadtverwaltung „Judenfreiheit“ proklamiert. Im darauffolgenden Jahr waren jüdische Händler nicht mehr zugelassen.18
Martin Blumenthal scheint diesen Widerständen zunächst getrotzt zu haben. So versicherte er im Entschädigungsverfahren: „Durch meine Tätigkeit wurde das Geschaeft meines Vaters weiter ausgedehnt, da ich neue Kundschaft herbeibrachte und andere Ortschaften wie mein Vater besuchte.“19
In der Londorfer Chronik wird diese Version bekräftigt: „Eine Zeitzeugin berichtet, dass Martin, als es den Juden schon verboten war, Vieh zu verkaufen, sich diesem Verbot widersetzte und an einen ‚fremden‘ Hof in der Allertshäuser Straße dennoch Vieh veräußerte.“20
Als die Umstände immer prekärer wurden, sah Martin Blumenthal in Kesselbach für sich keine Perspektive mehr. Im Spätsommer 1938 quartierte er sich unter der Woche bei Verwandten in Frankfurt ein, um beim Regierungspräsidium in Darmstadt seine Auswanderung in die USA zu betreiben.21 Am 19. September 1938 gelang ihm schließlich die Flucht.22 Über seine Ankunft im Exilland gab er später zu Protokoll:
„Unterdessen war ich 23 Jahre alt geworden und kam, ohne etwas gelernt zu haben, hier in New York an. Ich war absolut mittellos und war gezwungen, bei einer jüdischen Organisation einige Wochen zu essen und zu schlafen. Nach wochenlangem Suchen, fand ich eine untergeordnete Stellung in einem Lebensmittelgeschaeft, mit einem Wochenlohn von 8 Dollar.23 Der Name des Lebensmittelgeschaeftes war New Yorker Delicatessen, Inc. New York, N. Y. Ich bin noch heute in dieser Branche tätig.“24
Für die in Kesselbach zurückgebliebene Familie spitzte sich die Lage zu. Beim Novemberpogrom 1938 wurde die Londorfer Synagoge in der Allendorfer Straße von SA-Leuten verwüstet; dabei verbrannten die Inneneinrichtung und alle Kultgegenstände.25 Bei der darauffolgenden „Judenaktion“ wurde Martins Vater Joseph in Buchenwald inhaftiert.26
Martins Neffe Dr. Paul Liffman hat die Kindheitserinnerungen seiner Mutter Berti aufgeschrieben. Über die „Kristallnacht, a decisive trauma for the whole family“, berichtet er: „When he, grandfather (Joseph Blumenthal), was arrested, like tens of thousands of others, he was sent to Buchenwald for several weeks until the Jewish community paid ‚the German people‘ a huge ransom and they were released. He seemed forever changed by the experience. Photographs from shortly before and after show the transformation of a stout ruddy peasant into a thin, haunted-looking man.“27
Die Entrechtung und Enteignung der jüdischen Bevölkerung schritt unerbittlich fort. Nach seiner Entlassung aus Buchenwald, so Paul Liffman, „[…] my grandfather was forced to ’sell‘ his house and little plots of land to a local Nazi and they moved away, first to Offenbach […]. From there they went to Frankfurt, near the IG Farben factory where British air raids were now a possibility, between a rock and hard place. They always had suitcases under their beds in case the bombs began to fall or the Gestapo came to the door. At this time my grandfather literally wore holes in his shoes going to the various consulates trying to get a visa out of Germany. This went on for a couple of years, no doubt adding to his haggard appearance.“28
Martin Blumenthal sorgte sich um das Schicksal seiner Familie in Nazi-Deutschland und setzte sich für ihre Rettung ein – mit Erfolg, so sein Neffe: „Finally in late 1940, my uncle Martin, who’d already been in New York for a couple years, secured visa sponsorship (which meant above all a $ 5.000 escrow account required by the US government as security for such immigrants) with help from a group of relatives already somewhat more established in the States. So my mother and her parents received visas to leave Germany in December of that year.“29
Nach Zeitzeugenberichten30 soll Martin „1945 beim Einzug der Amerikaner aus seinem Panzer gestiegen und schnell in sein Elternhaus in der Allendorfer Straße [in Londorf; Anm. d. Red.] gegangen sein. […] Dieses Haus und die Scheune wurden später abgerissen und durch einen Neubau ersetzt.“31
Nach Auskunft seines Neffen betrieb Martin Blumenthal eine Serie von Delikatessenläden in Midtown Manhattan, New York. Er heiratete Edith Rosenberg und bekam zwei Töchter – Linda (geb. 1950) und Helen (geb. 1952). 1989 starb seine Ehefrau und Martin verheiratete sich erneut. Am 27. Dezember 2009 starb er in New York.
Die von Dr. Paul Liffman aufgeschriebenen Erinnerungen seiner Mutter sind sehr lesenswert. Eine deutsch-englische Version kann hier heruntergeladen werden: Berti Blumenthal-Liffman_1924-2016
- Vgl. die Geburtsurkunde in: Entschädigungsakte Martin Blumenthal, HHStAW 518 40953, Blatt 31 (Abschrift des Bürgermeisteramts Kesselbach vom 29. September 1958).
↩︎ - Hierzu und zum Folgenden vgl. Hanno Müller: Juden in Rabenau. Geilshausen, Kesselbach, Londorf, Rüddingshausen. Jüdische Schüler in Grünberg, Lich 2023, S. 20 f. (Einträge zu Martin Blumenthals Familie in Kesselbach), S. 55 (Einträge zu Martin Blumenthals Familie in Londorf), S. 47 (Abbildung von Martin Blumenthal, 1945).
↩︎ - Zum Schulbesuch von Martin Blumenthal vgl. folgende Unterlagen aus dem Archiv der Theo-Koch-Schule:
Hauptliste der Schüler und Schülerinnen der Höheren Bürgerschule (bis Ostern 1914) und Realschule (O. 1914–926) und Oberrealschule (O. 1926–O. 1938) und Oberschule für Jungen (ab O. 1938) Grünberg i. H. Angefangen Ostern 1910, beendet mit Schluss des Schuljahres 1938/39, S. 72 f. (Eintrag für Martin Blumenthal, Eintritts- und Austrittsjahr);
50 Jahrfeier der Oberrealschule zu Grünberg i. H. 22.–24. Mai 1926. Gedenkblätter von Oberstudiendirektor W. Angelberger und Studienrat O. Steuernagel, Grünberg 1926, S. 38 (Eintrag für Martin Blumenthal im Eintrittsjahr 1925/26, Bemerkung: VI [=Sexta]);
Schülerlisten, Schülerstatistiken, klassenbezogen, nach Jahrgängen geordnet. Den Klassenbüchern entnommen. Jg. 1922/23–1931/32 (Tagebuch der Klasse VI 1925/26, Klassenlehrer Kohlbach; Tagebuch der Klasse V 1926/27, Klassenlehrer Schott; Tagebuch der Klasse IV 1927/28, Klassenlehrer Schott; Tagebuch der Klasse IIIb 1928/29, Klassenlehrer Walther).
↩︎ - Die Bahnstrecke Grünberg – Lollar, auch Lumdatalbahn genannt, wurde 1896/1902 eröffnet und 1981/1991 stillgelegt. Ausführlich zur Geschichte der Lumdatalbahn vgl. den online-Artikel von Dieter Eckert: 110 Jahre Schienen im Lumdatal. Ihre Entstehung und ihr deprimierendes Ende. (https://www.lumdatalbahn.de/historisch/; zuletzt aufgerufen am 13. September 2025)
↩︎ - Vgl. die in Anm. 3 aufgeführten Unterlagen aus dem Archiv der Theo-Koch-Schule.
↩︎ - Vgl. die Mitteilungen an die Eltern über die Höhe des monatlichen Schulgelds in: Hessische Oberrealschule zu Grünberg. Bericht über das Schuljahr 1929/30, Ostern 1930, S. 14 (Archiv der Theo-Koch-Schule).
↩︎ - Entschädigungsverfahren von Joseph (Julius) Blumenthal, referiert in der Entschädigungsakte Martin Blumenthal, HHStAW 518 40953, Bl. 49.
↩︎ - Antrag auf Entschädigung für Schaden im beruflichen Fortkommen, 30. April 1956, HHStAW 518 40953, Bl. 3.
↩︎ - Hermann Roths Abiturzeugnis ist im Archiv der Theo-Koch-Schule erhalten sowie als Abschrift in seiner Entschädigungsakte (HHStaW 518 49153, Bl. 13). – Dass Hermann Roth noch 1934 sein Abitur machen konnte, war keineswegs selbstverständlich, erleichterte doch das „Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen“ vom 25. April 1933 den Ausschluss jüdischer Kinder vom Besuch der höheren Schulen. Allerdings war Hermann Roths Vater als Soldat im Ersten Weltkrieg gefallen (vgl. HHStAW 518 49153, Bl. 6), wodurch sein Sohn unter die Ausnahmeregelung des sogenannten „Frontkämpferprivilegs“ (§ 4 des „Gesetzes gegen die Überfüllung …“) fiel.
↩︎ - Vgl. Artur Rothmann: Jüdisches Leben in der Rabenau. In: Gabriele Hofmann und Harald Jung (Hg.): 1250 Jahre Londorf. Die Zeit von 1958 bis 2008. Schriftenreihe des Vereins für Heimat- und Kulturgeschichte der Rabenau e. V., Londorf 2008, S. 72–112, hier S. 95.
↩︎ - Siehe auch die Auskunft des späteren Schulleiters Peter Süßkand vom 23. November 1911 an die Entschädigungsbehörde, HHStAW 518 409553, Bl. 13.
↩︎ - Um welche Einrichtung es sich dabei handelt, konnte bisher nicht festgestellt werden.
↩︎ - Laut An- und Abmeldebüchern von Kesselbach (vgl. Müller, Rabenau [wie Anm. 2], S. 21) meldete sich Martin Blumenthal am 4. April 1930 nach Bad Wildungen ab und am 21. November 1930 aus Bad Wildungen in Kesselbach an. Auf der vom Kesselbacher Bürgermeisteramt ausgestellten Aufenthaltsbescheinigung (vgl. HStAW 518 40953, Bl. 41) ist der Zwischenaufenthalt in Bad Wildungen nicht vermerkt.
↩︎ - Das Manufaktur- und Modewarenkaufhaus S. Leiser, gegründet 1873 von Samuel Leiser, befand sich in der Lindenstraße 9 in Bad Wildungen, dem Ort des heutigen Heimatmuseums. Der Inhaber Leopold Leiser (geb. 1876), seine Frau Berta, geborene Lion (geb. 1888) und ihre Tochter Ruth Eva (geb. 1923) wurden wahrscheinlich am 7. Dezember 1941 von Köln, wohin sie 1938 verzogen waren, nach Riga deportiert; vgl. https://www.synagoge-voehl.de/images/pdf/lk/wil/Leiser_Leopold.pdf (zuletzt aufgerufen am 14. September 2025). – In der Lindenstraße 9 in Bad Wildungen wurden für die Familie Leiser Stolpersteine verlegt; vgl. https://stolpersteine-badwildungen.de/stolpersteine.php (zuletzt aufgerufen am 14. September 2025).
↩︎ - HHStAW 518 40953, Bl. 42.
↩︎ - Eidesstattliche Versicherung von Martin Blumenthal, 30. April 1956, HHStAW 518 40953, Bl. 3.
↩︎ - Bescheid der Entschädigungsbehörde vom 4. März 1960, HHStAW 518 40953, Bl. 49.
↩︎ - Vgl. Renate Krauß-Pötz: Grünberg in der Zeit des Nationalsozialismus. 1933–1945. Eine Chronik. Hg. vom Freundeskreis Museum Grünberg e. V., Grünberg 2024, S. 119.
↩︎ - Eidesstattliche Versicherung von Martin Blumenthal, 27.10.1959, HHStAW 518 40953, Bl. 42. ↩︎
- Rothmann, Rabenau (wie Anm. 10), S. 95. – Über die Entstehung der zitierten Zeitzeugenaussage ist leider nur wenig bekannt. Vgl. die einleitende Bemerkung des Redaktionsteams (ebd., S. 72):
„1998 begann Christel Jost mit den Recherchen zum jüdischen Leben in Londorf. Bis 2002 trug sie die ersten Informationen zusammen. Sie musste die Arbeit aus privaten Gründen aufgeben und stellte ihre Rechercheergbnisse Artur Rothmann zur Verfügung, der darauf aufbauend weiterforschte und in den letzten Jahren vor seinem Tod im Mai 2006 noch zahlreiche Informationen und Materialien zusammentragen konnte. Der vorliegende Text wurde in der Rohfassung von Artur Rothmann geschrieben. Es war ihm ein großes Anliegen, mit seiner Arbeit dazu beizutragen, dass sich die Rabenau ihrer früheren jüdischen Mitbürger und Mitbürgerinnen erinnert. Nur wenige Wochen vor seinem Tod hatte er eine erste Fassung seines Textes für den vorliegenden Band fertig gestellt und der Redaktion übergeben. Dieser Text diente als Grundlage des hier abgedruckten Artikels.“
↩︎ - Vgl. die Erklärung der Bevollmächtigten von Martin Blumenthal, 7. Dezember 1957, HHStAW 518 40953, Bl. 14.
↩︎ - Vgl. Müller, Rabenau (wie Anm. 2), S. 21.
↩︎ - Anmerkung von Martins Neffen Dr. Paul Liffman: „$8 for a 40-hour week would have been less than the legal minimum wage of 25 cents/hour at the time.“ (E-Mail vom 17. September 2025)
↩︎ - Eidesstattliche Versicherung von Martin Blumenthal, 30. April 1956, HHStAW 518 40953, Bl. 3.
↩︎ - Vgl. Studienkreis Deutscher Widerstand (Hg.): Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933-1945. Band 1/2: Hessen II. Regierungsbezirke Gießen und Kassel, Frankfurt a. M. 1996, S. 47.
↩︎ - Vgl. Veränderungsmeldungen 17.12.1938–23.12.1938, KL Buchenwald, 1.1.5/ 5278281/ ITS Digital Archive, Arolsen Archives (Joseph Blumenthal: laufende Nr. 26, Häftlingsnummer: 22516).
↩︎ - Vgl. Dr. Paul Liffman: “Berti Blumenthal-Liffman (1924–2016), from her childhood recollections”, verfasst am 6. September 2022. In: Müller, Rabenau (wie Anm. 2), S. 44 f., hier S. 44. – Übersetzung von Nanni Müller (ebd., S. 43): „Das war die Zeit der Kristallnacht, ein einschneidendes Trauma für die ganze Familie. Als mein Großvater [Joseph Blumenthal] verhaftet wurde, kam er wie Zehntausende andere für mehrere Wochen nach Buchenwald, bis die jüdische Gemeinde dem deutschen Volk ein hohes Lösegeld zahlte und sie freigelassen wurden. Diese Erfahrung schien ihn für immer zu verändern. Fotos von kurz davor und danach zeigen die Verwandlung eines stämmigen, rotbackigen Bauern in einen hageren, gequält wirkenden Mann.“
↩︎ - Ebd., S. 44. – Übersetzung von Nanni Müller (ebd., S. 43): „Ungefähr zu dieser Zeit [nach der Entlassung aus Buchenwald am 17. Dezember 1938; Anm. d. Red.] wurde mein Großvater gezwungen, sein Haus und seine kleinen Grundstücke an einen örtlichen Nazi zu ‚verkaufen‘, und sie zogen weg, zuerst nach Offenbach […]. Von dort aus zogen sie nach Frankfurt, in die Nähe der IG-Farben Fabrik, wo die Möglichkeit britischer Luftangriffe bestand; sie waren also in einer Zwickmühle. Sie hatten immer Koffer unter ihren Betten, für den Fall, dass die Bomben fielen oder die Gestapo vor der Tür stand. Zu dieser Zeit hatte mein Großvater buchstäblich Löcher in den Schuhen, als er zu den verschiedenen Konsulaten ging, um ein Visum für eine Ausreise aus Deutschland zu bekommen. Das ging ein paar Jahre so, was zweifellos zu seinem hageren Aussahen beitrug.“
↩︎ - Ebd. – Übersetzung von Nanni Müller (ebd., S. 43): „Ende 1940 gelang es meinem Onkel Martin, der bereits seit einigen Jahren in New York lebte, mit Hilfe einer Gruppe von Verwandten, die bereits etwas länger in den USA lebten, ein Visum zu erhalten (was vor allem ein Treuhandkonto von 5.000 Dollar erforderte, das die US-Regierung als Sicherheit für solche Einwanderer verlangte). So erhielten meine Mutter und ihre Eltern im Dezember desselben Jahres ein Visum zur Ausreise aus Deutschland.“
↩︎ - Zur Zuverlässigkeit der Zeitzeugenberichte vgl. Fußnote 20.
↩︎ - Rothmann, Rabenau (wie Anm. 10), S. 96. – Martins Neffe hält diese Episode für wenig glaubhaft (Korrespondenz mit Dr. Paul Liffman im Januar 2023, Dezember 2024 und Januar 2025). Auch Artur Rothmann schien seine Zweifel zu haben: „Leider lebt von der Familie Hillgärtner [den Käufern von Martin Blumenthals Elternhaus in Londorf; Anm. d. Red.] niemand mehr, der uns Näheres darüber erzählen könnte.“ (Ebd.)
↩︎