
Abraham Bauer wurde am 4. Mai 1872 in Merlau geboren.1 Die jüdischen Familien von Merlau gehörten zur Synagoge im benachbarten Nieder-Ohmen.2 Abrahams Eltern waren der Handelsmann Löb Bauer aus Merlau, geboren am 17. Oktober 1833, und Setta Blumenfeld aus Kirchhain, Jahrgang 1841.3 Abraham hatte noch eine ältere Schwester Blanka, geboren am 9. Mai 1868 in Nieder-Ohmen.4 Nach dem Tod seiner Frau heiratete Löb Bauer Augusta Heching. Das Ehepaar bekam sechs weitere Kinder. Als Adresse der Familie ist in den Geburtsurkunden der Kinder „Ortsstraße Nr. 66“ angegeben.5
Von 1884 bis 1886 besuchte Abraham Bauer als erster jüdischer Schüler die weiterführende Schule in Grünberg, die damals noch „Erweiterte Volksschule“ genannt wurde.6 Über Abraham Bauers Ausbildung ist nichts bekannt. Fest steht, dass er vor 1911 in die Vereinigten Staaten ausgewandert ist.7 Vielleicht ist er dort bei einem (Verwandten?) Löb Bauer untergekommen, der wahrscheinlich bereits 1865 in die USA ausgewandert war.8
Wir wissen nicht, wie es Abraham Bauer in Amerika erging. Leicht war das Leben dort aber sicher nicht, wie die folgende Warnung an Auswanderungswillige erkennen lässt:
„Kommt nicht mit der Idee, hier ein Paradies zu finden […]. Auch hier verdient der Arbeiter nur im Schweiße seines Angesichts sein Brot. Es gibt Reiche und Arme, Einflussreiche und Abhängige hier wie überall. […] Der Einwanderer bewahre sich treulich alle guten Seiten seines Charakters, aber er suche auch, soviel wie möglich, von den lobenswerten Eigenschaften der Bevölkerung seiner neuen Heimat anzunehmen. Um hier zu bestehen, hat er in den meisten Fällen noch viel zu lernen und wird schwerlich fortkommen, wenn er sich hinter sein altes Wesen und das alte Herkommen verschanzt.“9
Bei Abraham Bauers Auswanderung dürfte die wirtschaftliche Situation den Ausschlag gegeben haben. Gründe für die Massenauswanderung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts waren der Übergang Deutschlands vom Agrar- zum Industriestaat und das Missverhältnis zwischen wachsender Bevölkerung und begrenztem Erwerbsangebot.10 Im strukturschwachen Vogelsberg, zumal bei einer kinderreichen Familie wie den Bauers, dürfte der Auswanderungsdruck besonders hoch gewesen sein. Nach den Recherchen der Lokalhistorikerin Marie Herber stellten in dem kleinen Merlau allein in den Jahren von 1853 bis 1878 mindestens 133 Personen einen Auswanderungsantrag, davon 57 Personen mit dem Zielland „Amerika“.11
Soweit wir wissen, ist Abraham Bauer der einzige jüdische Ehemalige aus Grünberg, der noch vor der Shoah auswanderte. Seine Geschwister hingegen mussten vor den Nazis ins Ausland fliehen. Über ihre Schicksale sind wir durch zwei genealogische Blogs von Nachkommen informiert.12
- Vgl. Heinrich Reichel: Juden in Nieder-Ohmen, Vogelsbergkreis. Im Eigenverlag erschienen, Mücke/Nieder-Ohmen 1998, S. 48.
↩︎ - Vgl. https://www.alemannia-judaica.de/nieder_ohmen_synagoge.htm (zuletzt aufgerufen am 13. August 2024).
↩︎ - Vgl. Reichel, Nieder-Ohmen (wie Anm. 1), S. 48.
↩︎ - Vgl. ebd.
↩︎ - Vgl. das Geburtsnebenregister Merlau, HStAM Best. 921 Nr. 1139 (Geburtsurkunden von Abraham Bauers Geschwistern: Joseph Bauer, geb. am 06. Mai 1876; Kathinka Bauer, geb. am 19. August 1879; Selma Bauer, geb. am 28. Juli 1880; Johanna Bauer, geb. am 29. November 1887; Hermann Bauer, geb. am 22. Juli 1891; Lina Bauer, geb. am 27. Mai 1893).
↩︎ - Vgl. den Eintrag in: Handschriftliche Schülerliste von 1876 bis 1902. Nach Notizen des früheren Lehrers Friedrich Wilhelm Hamburger zusammengestellt vom Oberstudiendirektor Wilhelm Angelberger (Schulleiter 1909-1929), Grünberg 1909, hier: Schuljahre 1884/85 und 1885/86 (Archiv der Theo-Koch-Schule).
↩︎ - Vgl. den Eintrag Nr. 106 („Bauer, Abraham, Merlau, jetzt in Amerika“) des Ehemaligenverzeichnisses in: Höhere Bürgerschule zu Grünberg in Hessen. Festschrift zur Einweihung des neuen Schulgebäudes am 23., 24. und 25. September 1911. Zusammengestellt von Rektor Angelberger, Grünberg 1911, S. 31 (Stadtarchiv Grünberg); vgl. den gleichlautenden Eintrag in: 50 Jahrfeier der Oberrealschule zu Grünberg i. H. 22 –24. Mai 1926. Gedenkblätter von Oberstudiendirektor W. Angelberger und Studienrat O. Steuernagel, Grünberg 1926, S. 9 (Stadtarchiv Grünberg und Archiv der Theo-Koch-Schule).
↩︎ - Am 3. April 1865 hatte ein gewisser Löb Bauer („led[ig]“) eine Auswanderungsanzeige in die USA in der Lokalzeitung veröffentlicht. Er wanderte zusammen mit „Herz [Bauers?] 2. Sohn“ aus. Ob es sich dabei um Vorfahren von Abraham Bauer handelt, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen; vgl. Marie Herber: Woher sie kamen … Wohin sie gingen. Auswanderungen aus dem ehemaligen Kreis Grünberg in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, Grünberg-Queckborn 1992, S. 97 und S. 136.
↩︎ - Oberhessisches Intelligenz- und Kreisblatt Gießen vom 29. August 1846, zitiert bei Herber, Woher sie kamen (wie Fußnote 8), S. 45.
↩︎ - Vgl. Klaus J. Bade (Hg.): Auswanderer – Wanderarbeiter – Gastarbeiter. Arbeitsmarkt und Wanderung in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Bd. 1, Ostfildern 1984, S. 264–269.
↩︎ - Vgl. Heber, Woher sie kamen, S. 97–100.
↩︎ - Vgl. https://ancestors.familisearch.org/en/G8KS-P2X/joseph-bauer-1876-1954 (zuletzt aufgerufen am 13. August 2024; enthält Informationen zu Abraham Bauers jüngeren Geschwistern); vgl. ebenso https://brotmanblog.com/2022/03/22/moritz-blumenfelds-children-and-his-sister-berta-blumenfeld-escape-from-germany/#fnref-27634-1 (zuletzt aufgerufen am 13. August 2024; enthält Informationen zu Abraham Bauers älterer Schwester Blanka, ihrem Ehemann und ihren Kindern sowie ihrer Schwägerin).
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